Kulturradio rbb
Bernhard Morbach
Kulturradio rbb-21-02-2013-3214
Hier begegnen einander eine geniale Komposition, hervorragende Musiker und eine brillante Aufnahmetechnik.

Luigi Boccherini: Stabat mater

Hier begegnen einander eine geniale Komposition, hervorragende Musiker und eine brillante Aufnahmetechnik.

Bewertung: großartig

Text und liturgischer Ort

Die mittelalterliche Dichtung reflektiert im Gebet das Leiden der Mutter Christi am Fuß der Kreuzes. Der bildreiche und hochdramatische Text hat Komponisten aller musikgeschichtlichen Epochen zu tief bewegenden Vertonungen inspiriert. In seiner einstimmigen (gregorianischen) Grundgestalt hat das Stabat mater seinen liturgischen Bestimmungsort in Messe am Fest der Sieben Schmerzen Mariae (15. September). Seit 1727 wurde dies am Freitag nach dem Passionssonntag (zweiter Sonntag vor Ostern) gefeiert, was jedoch durch 2. Vatikanische Konzil wieder rückgängig gemacht wurde. Sämtliche Vertonungen des Stabat mater seit der Barockzeit können für sich durchweg einen »L’art pour l’art-Status« beanspruchen.

Eine Komposition im "Hochrisiko-Bereich"

Giovanni Battista Pergolesis Vertonung (1736) wurde innerhalb kürzester Zeit europaweit berühmt und geriet eigentlich nie in Vergessenheit. Jeder Komponist der Folgezeit begab sich automatisch in einen Wettbewerb mit Pergolesi. Möglicherweise wollte sich Boccherini dadurch, dass er eine Komposition nur für Solo-Sopran, Streicher und Basso continuo schuf, von Pergolesi (Solo-Sopran und -Alt) absetzen. Diese ursprüngliche Fassung, die die Einspielung präsentiert, komponierte Boccherini 1781, als er im Dienst des spanischen Infanten stand. Eine zweite des Jahres 1800 sieht eine Besetzung für drei Singstimmen vor.

Ausdruck und interpretatorischer Nachvollzug

Boccherini, dessen Musiksprache noch barocke, aber natürlich auch sehr viele »aktuelle« Elemente in sich birgt, verweigert sich dem Grundaffekt der Passionsdichtung durchaus nicht. Allerdings gründet er Dramatik und Expressivität der Textgestaltung auf eine durchweg anmutige Melodik. Diese geradezu »einzigartig wehmütige Schönheit und Ausdrucksstärke« (Michael Wersin, Reclam 2006) vermag die Interpretation höchst eindrücklich zu entfalten, was natürlich vor allem der Gestaltungskraft er Sängerin geschuldet ist. Sie vermeidet jegliche emphatische Geste, die der Text zwar nahelegen, die jedoch die Anmut der Melodie zerstören würde. Amaryllis Dieltins vertraut in ihrer Zurückhaltung auf die spezifische Ausdruckskraft der Musik, die genuin im Kompositorischen verwurzelt erscheint.

Klangkultur auf höchstem Niveau

Das Ensemble liefert eine solistische Besetzung des Streicherparts, wodurch auch ohne jegliche aufnahmetechnische Manipulation eine ideale Balance zwischen Vokalem und Instrumentalem hergestellt wird. Der interpretatorische Grundansatz in letzterem Bereich korrespondiert mit dem verwendeten historischen Instrumentarium (Darmbesaitung, Mensur und Bogen): die Töne haben grundsätzlich eine »gerade« Klanggestalt und erfahren eine Belebung durch die historisch verbürgte Manier des Flaté (Bebung). Vibrato wird (gelegentlich) als Ornament eingesetzt. Diese Interpretationsästhetik ist sowohl für den Bereich des Instrumentalen als auch des Vokalen verbindlich. Dass es notwendig ist, eine solche »Einheit« herzustellen, erhellt aus vielen Lehrschriften des 18. Jahrhunderts. Nicht nur in dieser Hinsicht ist die vorliegende Einspielung als beispielhaft zu bezeichnen, denn hier begegnen einander eine geniale Komposition, hervorragende Musiker und eine brillante Aufnahmetechnik.

Bernhard Morbach, kulturradio