Wie mag es bei einer festlichen Sonntagmesse in Paris vor rund 130 Jahren zugegangen sein? Man stelle sich einen hohen neogotischen Kirchenraum vor, von Weihrauchduft durchströmt. Der Priester zelebriert den Gottesdienst in einem goldenen Messgewand, vorne im Chorraum der Kirche, mit dem Rücken zur Gemeinde. Und während er die Gebete stellvertretend für die Gläubigen Richtung Hochaltar und Kreuz verrichtet, hören die betenden oder vielleicht auch nur abwartenden Menschen, die im Mittelschiff sitzen, der Kirchenmusik zu. Vielleicht hat sie die große Kathedralorgel zu Beginn bereits mit ihrem sonoren Klang willkommen geheißen, aber nun singt ein Chor, bestehend aus sechs Knabenstimmen, sechs Tenören und sechs Bässen, von einer Seitenempore aus. Er wird von einer kleineren Orgel und einem Kontrabass oder einer Harfe begleitet. An manchen Sonntagen singt auch eine Gesangssolistin oder ein Solist. Die Kirche heißt Ste Clothilde und der Organist César Franck, die Menschen bekommen kleine Perlen kirchenmusikalischer Gebrauchsmusik zu hören.
Von 1859 bis zu seinem Tod im Jahr 1890 war der gebürtige Belgier Titularorganist an der Kirche Ste. Clothilde in Paris. Für ihn war das weit mehr als ein Ehrentitel. Er spielte zu Vespern, zu Messen, Hochzeiten und Beerdigungen und er komponierte passende Stücke für den Gottesdienst. Die wurden zu seinen Lebzeiten großteils gedruckt und auch in anderen Kirchen aufgeführt, im 20sten Jahrhundert sind sie aber in Vergessenheit geraten.
Musiker aus Lyon und Genf haben sich nun zusammengetan, um diese kleinen Pretiosen wieder einzuspielen. Federführend bei diesem Projekt ist Bernard Tetu, der in Lyon Professor für Chorleitung ist. Als erste einer auf mehrere CDs ausgelegten Reihe ist eine sehr abwechslungsreiche Auswahl der geistlichen Kammermusik von Franck zusammen gekommen, die in Deutschland beim Label Aeolus erschienen ist.
Das Latein wird auf dieser CD mit Absicht mit französischem Akzent gesungen, also heißt es beispielsweise „salütaris“ statt „salutaris“. Denn erst ab 1903 wurde in französischen Kirchen das Latein so ausgesprochen, wie wir es heute kennen. Dieses und manch anderes interessantes Detail zur Einspielung kann man einem ausführlichen Aufsatz entnehmen, den Diego Innocenzi verfasst hat, der Organist dieser Aufnahme, und der im Booklet zur CD abgedruckt ist. Man gewinnt bei der Lektüre den Eindruck, dass die Musiker nicht einfach nur in den verstaubten Notenschrank von Ste Clothilde gegriffen haben und die Musik nun nach Gutdünken aufführen - im Gegenteil: Eine aufwändige Recherchearbeit nach den gedruckten und manchmal auch nur im Manuskript vorliegenden kleinen Werken ging der Aufnahme voraus, detaillierte Überlegungen zur Tempowahl, zur Registrierung der Orgel, zur Artikulation und zur Aussprache wurden angestellt. Die Aufnahme fand dann in der Kirche St-Francois-de-Sales in Lyon statt, wo eine Orgel von demselben legendären Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll steht, der auch die Orgel für César Francks Heimatkirche in Paris gebaut hat.
Mit Katia Velletaz, Emiliano Gonzales Toro und Stephen McLeod hat der Dirigent Bernard Tetu nicht nur individuell sehr gute, sondern auch vom Timbre her sehr harmonisch zueinander passende Vokalsolisten ausgewählt. Besonders glänzen können sie in César Francks Offertorium „Domine Deus in simplicitate“, das als Terzett angelegt ist:
Typisch französische Musik des 19. Jahrhunderts - sanfte, gefällige Harmoniefolgen, dazu geradezu pastoral miteinander verwobene Vokalstimmen.
Von geradezu bezwingender Einfachheit ist die Idee, die dem letzten und längsten hier eingespielten geistlichen Kammermusikwerk zugrunde liegt: Im „Dextera Domini“ erfindet Franck eine schlichte Gesangsmelodie, die zuerst unisono von den Bässen des Chors vorgetragen wird, dann treten die Tenöre hinzu, schließlich der ganze Chor und die volle Orgel: Eine sehr effektvolle dreistufige Steigerung einer sehr eingängigen Melodie.
Fast alle hier eingespielten Werke haben eine andere Besetzung - und dreimal ist auch die Orgel mit Solo-Zwischenspielen vertreten. Da kann Diego Innocenzi ein paar mehr Register ziehen als bei den immer sehr sanft zu begleitenden Vokalwerken. Die Cavaille-Coll-Orgeln, die aufgrund ihrer zahlreichen Zungenstimmen ein wenig wie ein riesiges Harmonium klingen, haben einen hohen Wiedererkennungswert.
Die Einspielung aller Werke für Vokalstimmen und Orgel von César Franck ist ein Projekt, zu dem man die Beteiligten nur beglückwünschen kann: Stilistisch sensibel, hoch musikalisch, mit guten Ensembles und Solisten und das auch noch in einer sehr plastischen Aufnahmequalität - mehr Ehre kann man César Francks kleinen Werken kaum antun.