Die Kathedrale von Antwerpen verdankt ihre Orgel einer Spende von Mademoiselle Eugenia Kempeneers, einem treuen Gemeindemitglied, das die fürstliche Summe von 150.000 Francs für die Anschaffung einer neuen Pfeifenorgel hinterließ. Als das Geld 1888 an den Kirchenvorstand übergeben wurde, nominierte man rasch eine Komission von fünf Fachleuten. Zu dieser Expertenrunde gehörten der Domorganist Joseph Callaerts, sein Bruder François, der Dommusikdirektor, der Komponist und Organist Edgar Tinel, ein Bruder der Abtei von Averbode, und der Musikwissenschaftler Ritter Léon de Burbure.
Für Joseph Callaerts war die Orgel, welche Aristide Cavaille-Coll für die Kirche von St.Sulpice in Paris erbaut hatte, eine Referenz. Er träumte davon, diesen berühmten französischen Orgelbauer auch mit dem Bau der neuen Orgel für „seine” Empore beauftragt zu sehen. Die Expertenkomission bat um ein Angebot von Cavaille-Coll, aber auch von dem belgischen Orgelbauer Pierre Schyven und der deutschen Firma Walcker & Cie. Den Orgelbauern wurde genehmigt, die Wiederverwendung der Pfeifen des bisherigen Instrumentes (III/48) einzuplanen, sofern sie dies wünschten. Das neue Instrument sollte in das existierende Orgelgehäuse von 1657 gebaut werden, ein Meisterwerk mit zahlreichen Skulpturen von Peter Verbrugghen dem Älteren (1615-1668) nach einem Entwurf von Erasmus Quellin (1634-1657).
Aufgrund seines ausgezeichneten Rufes wollte man Cavaille-Coll gerne Gelegenheit geben, den Zuschlag zu erhalten. Dazu sollte er für den gleichen Preis elf weitere Register anbieten. Das lehnte der Franzose allerdings ab. Drei Orgelkommissionsmitglieder stimmten schließlich zugunsten Schyvens, zwei zugunsten Cavaille-Colls (sehr wahrscheinlich die Callaerts-Brüder).
Die Klangästhetik der Instrumente von Schyven ist derjenigen von Cavaille-Colls Orgeln durchaus ähnlich. Die Zungenregister des französischen Orgelbauers sind im Allgemeinen kräftiger, während die Grundstimmen von Schyven im Ton runder und feiner sind. Der Tutti-Klang der Schyven- Orgel ist weniger mächtig als jener der großen Cavaille-Coll-Orgeln, dafür bietet sie eine Fülle poetischer 8’-Register.
Pierre Schyven lernte das Orgelbauhandwerk bei Merklin-Schütze & Cie, der Werkstätten in Brüssel und Paris betrieb. Joseph Merklin war oft unterwegs auf Geschäftsreisen und so kam es, daß Pierre Schyven ab 1851 die Leitung der Werkstatt in Brüssel übertragen wurde. 1870 übernahm er dann die Werkstatt zusammen mit zwei Geschäftspartnern und gründete „Pierre Schyven & Cie.” Eins seiner ersten großen Instrumente baute er 1874 für die Kirche Notre-Dame in Laken (III/52). Die Orgel der Kathedrale von Antwerpen ist das größte Instrument, das er jemals baute. Es ist ohne Zweifel ein Meisterwerk des belgischen Orgelbaus im 19. Jahrhundert. Das Instrument hat sich über den Lauf der Jahre in seinem Originalzustand erhalten.