Klarheit und Eindringlichkeit
Mit Louis Vierneʼs Sinfonien Nr. 5 und 6 kommt ein Projekt des Aeolus-Labels zum Abschluss, das vor 15 Jahren mit den ersten beiden Sinfonien begann, eingespielt von Daniel Roth an der Cavaille-Coll-Orgel von Saint-Sulpice in Paris; 2010 ging es weiter mit den Sinfonien 3 und 4. Ebenfalls 2010 spielte Stephen Tharp in Saint-Sulpice die 5. Sinfonie ein; 2014 folgte die Nummer 6. Diese beiden Aufnahmen erschienen im vergangenen November, elf Monate vor dem 150. Geburtstag Viernes im Oktober 2020. Die beiden Alben mit Daniel Roth sind bereits vielfach gerühmt worden. Der Titulaire von Saint-Sulpice transzendiert die virtuosen Anforderungen der Stücke durch seine poetisch-kantable Spielweise. Hinzu kommt die Expertise von Tonmeister Christoph Martin Frommen: seine Aufnahmen aus Saint-Sulpice sind ungeschlagen in Raumweite, Wärme und Detailreichtum - schon im CD-Audio-Format, in dem ich die Einspielungen einzig kenne. Und auch Freunde des Zweiunddreißigfuß kommen auf ihre Kosten. Aus einem Video auf den Internet-Seiten des Verlags geht hervor, dass Roth bereits die 4. Sinfonie für die Einspielung neu einstudiert und die Nummern 5 und 6 bisher nicht im Repertoire hatte. Er bekennt eine Vorliebe für die Sinfonien 1 bis 3 und räumt eine gewisse Reserve zur chromatischen Schreibweise im Kopfsatz der Vierten ein, wobei er sich aber begeistert von deren Finale zeigt. All das lässt es folgerichtig erscheinen, dass für die dritte Folge Stephen Tharp übernommen hat. Wie souverän er mit der gewaltigen, auf ihre Weise eigenwilligen Orgel vertraut ist, hat er bereits auf zwei Alben des Labels JAV von 2002 und 2005 gezeigt. Der Löffeltritt für den Schweller und der Umgang mit mindestens zwei Assistenten sind ihm keine hörbaren Hindernisse. Stephen Tharp bringt aber nicht nur virtuoses Können und Einfühlung in das herrliche Instrument mit. Besonders in der 5. Sinfonie - wohl der bedeutendsten - zeigt er eine Ruhe, ein Atmen mit den expressiven Spannungsbögen, das der Musik erst ihre sinfonischen Dimensionen gibt, gleich in welchem Tempo. Sein dichtes, geschmeidiges Legato dient dem Ziel, keinen melodisch-harmonischen Faden abreißen zu lassen. Tharp hält in den langsamen Sätzen das äußerste Strecken der musikalischen Zeit durch - noch im gedehntesten Vorhalt spürt der Hörer die Auflösung kommen, bevor sie sich ereignet. Scheinbar mühelos gelingen die beiden Scherzo-Sätze mit ihrer atemberaubenden Pianistik. In Viernes tumultuösen Allegros schließlich kennt Tharp keine Etappen, die Entwicklungen werden konsequent bis in den Schluss geführt. Die Kompromisslosigkeit von Viernes sinfonischem Komponieren in diesen beiden Gipfelwerken findet darin eine zwingende Entsprechung. Tharps Interpretationen fesseln von der ersten bis zur letzten Note. Daniel Roth mag in den Sinfonien 1 bis 4 eine Spur inniger eins sein mit dem Instrument, er geht möglicherweise um Nuancen genauer weiter, gewährt poetischen Zäsuren etwas mehr Raum und erreicht damit den Eindruck eines durch und durch singenden Spiels. Doch ebenbürtige Musiker sind beide Spieler zweifellos. Der Vergleich mit bisherigen Gesamteditionen der sechs Vierne-Sinfonien schließlich ist grundsätzlich subjektiv. In meinen Ohren war die Einspielung Ben van Oostens aus den Achtzigerjahren bisher unerreicht nach Instrumenten, Interpretation und Aufnahme. Van Oostens gelassene Stilsicherheit und Musikalität behalten auch ihre Gültigkeit - an Klarheit und Raumklang jedoch, an emotionaler Eindringlichkeit und an schierer Unmittelbarkeit des musikalischen Erlebens hat die Aeolus-Einspielung nun die Nase vorn.
Friedrich Sprondel