Tibia
Michael Zapf
Tibia-03-2007-1513
Karsten Erik Ose benutzt das Beiheft der CD als unaufdringliches didaktisches Mittel, den Hörer auf seine eigene Interpretationsreise zu senden, und das heißt, dass seine Einspielung wieder selbst den Charakter eines eigenständi­gen Kunstwerkes bekommt, das verschiedene gebildete Interpretationen durch den Rezipienten ermöglicht.

Diese Einspielung der ersten 6 Sonaten aus Veracinis 12 Sonaten „a violino o flauto" fordert den Zuhörer zur Beteiligung an der Interpre­tation heraus, und damit unterscheidet sie sich von dem gesamten Umfeld anderer barocker Einspielungen. Zur kodifizierten Interpreta­tionsauffassung der Musik des 18. Jahrhun­derts, die in einer Unmenge von Traktaten überliefert ist, gehört die Verpflichtung des Komponisten, vor dem Ergreifen der Feder sich über den darzustellenden Affekt im Klaren zu sein, und es gehört dazu die Verpflichtung des Interpreten, diesem Affekt in der Wahl des Tempos, des Instrumentes und der Verzie­rungen gerecht zu werden. Dass aber der Hörer eine Verpflichtung habe, sich ebenfalls darüber Gedanken zu machen, was er da höre, darüber sagen die Traktate und die Booklets heutiger Einspielungen nichts - er wird als Tabula rasa gesehen, auf die die Artistik einprasselt, zur Erzeugung eines Gefühls.

Karsten Erik Ose benutzt das Beiheft der CD als unaufdringliches didaktisches Mittel, den Hörer auf seine eigene Interpretationsreise zu senden, und das heißt, dass seine Einspielung wieder selbst den Charakter eines eigenständi­gen Kunstwerkes bekommt, das verschiedene gebildete Interpretationen durch den Rezipienten ermöglicht. Den Einstieg liefert Ose durch verschlüsselte Andeutungen, die vage genug bleiben, um nicht pedantisch zu sein, aber auch deutlich genug, um sich mit ihnen zu beschäftigen. Dies beginnt ganz unscheinbar mit einem Porträt des Solisten auf der Rückseite des Booklets, am Boden kauernd mit einer Ziga­rette in der Hand. Das Bild ist vertraut, hockte doch Frans Brüggen ganz genau so auf der Rückseite des Covers seiner ersten Telefunken-Schallplatte. Damit sagt Ose, an wen er instru­mental und stilistisch anknüpft, und man begreift, dass die genüssliche und flexible Tongebung von Oses Blockflötenspiel hier ihre Wurzeln hat. Frans Brüggen hat zwei der sechs Sonaten dieser CD auch selbst eingespielt, die zweite und die sechste. Beim vergleichenden Hören der zweiten Sonate in G-Dur fällt als erstes auf, dass Ose eine kleine Terz höher spielt, seine Sonate ist in B-Dur, gespielt auf einer Blockflöte in b1 von Tim Cranmore nach Bressan. Warum macht sich ein Ensemble die Mühe, den gesamten Notentext zu transponie­ren?

Zur Beantwortung dieser Frage hilft eine weite­re unscheinbare, im Booklet versteckte Andeu­tung. Jede der Sonaten ist mit dem Symbol eines Tierkreiszeichens versehen, im Falle der Sonata Seconda ist es das Frühlingskennzeichen des Widders. Ose gibt damit dem Hörer eine Hilfestellung, was er selbst vor der Einspielung sich vorstellte. In einem Interview im Deutsch­landfunk mit Johannes Jansen erklärt er, dass für ihn am Anfang immer die Frage steht: Warum hat der Komponist das notiert, welche Aussage, welche Charaktere, welche Affekte werden dargestellt? Wer steht da, wenn der Vorhang hochgeht, und vor welchem Hinter­grund? Welche Bilder und Assoziationen stel­len sich ein, die die Situation beschreiben? Den Ansatz dazu bekommt der Hörer mit dem Tierkreiszeichen vermittelt - es geht um etwas Frühlingshaftes, Bukolisches. Und sofort ver­ändert sich die Wahrnehmung der Sonate: weite Landschaften tun sich auf, das Kapriolenhafte des zweiten Satzes bringt umherspringende Tiere in pastoraler Umgebung vor Augen, und die gespielte Flöte wird zur Hirtenflöte. Und damit wird die Wahl des Instrumentes klar: Brüggen hatte die Sonate wie notiert in G-Dur auf einer f-Flöte eingespielt. Die Wahl einer b-Flöte und das Spielen der Sonate in deren Grundtonart kommt der Vorstellung einer Hirtenflöte wesentlich näher, auch weil die Terzenseligkeit der Ornamentation dadurch intonationsmäßig reiner wird. Karsten Erik Ose hat damit auch die Wahl des Instrumentes unter den vorgestellten Affekt gestellt, und es war ihm und seinen Mitmusikern den Aufwand der Transposition wert. Vor diesem Hinter­grund kann die Ornamentik viel improvisatori­scher und verspielter ausfallen, ohne dass jemals der Eindruck einer Überfrachtung entsteht.

Jede einzelne der Sonaten hat ihre jeweils eige­ne Charakteristik, die der Hörer erforschen kann, und jede der Sonaten bleibt dem inten­dierten Affekt treu, auch stilistisch. So erinnert die dritte Sonate sehr an Corelli, und Ose ver­zichtet konsequent auf jegliche Ornamente, die dem widersprechen würden, die Verzierungen sind sortenreiner Corelli und nicht gemischt. Wer den Traite von Tartini kennt, wird seinen Verzierungen in der ersten Sonate wiederbegeg­nen, wer Babell kennt und dessen Oboensonate B-Dur mit ausgeschriebener Ornamentik, wird diese in der vierten Sonate wiedererkennen. Die fünfte Sonate ist im galanten Stil von Quantz und Telemann, die sechste wieder in spätem italienischem Stil. Und auch die Continuobegleitung passt sich dieser Stilechtheit an, sie ist in der fünften Sonate deutlich galanter als in den anderen. Auf unaufdringliche Art vermittelt Ornamente 99 damit dem professionellen Hörer auch einen Einblick in die regionale Verzierungspraxis des Barock und lädt zu eige­ner Recherche ein.

Ist das Veracini oder nicht? Die Frage ist ange­sichts des ausgesprochen dürftigen originalen Notentextes müßig. Nur wenn gekonnte Ver­zierungskunst den oft spärlichen Notentext in­terpretiert, gelingt eine überzeugende Darstel­lung, wie man beim Mitlesen in dem Faksimile der Noten erfahren kann. Dies ist eine weitere Aufforderung an den Zuhörer, anhand des Textes mitzuerleben, wie schlüssig die Hinzu­fügung einer petite reprise im 4. Satz der ersten Sonate ist, wie konsequent sparsame Verän­derungen auch der Basslinien, wie jederzeit affektgetreu und sprechend jedes Ornament erscheint.

Das anfangs erwähnte Porträt des Solisten ver­weist noch auf etwas anderes: auf das Titelblatt des Beiheftes mit einem Vanitas-Gemälde von Härmen van Steenwijk, einen Totenkopf mit Blockflöte und Tabakspfeife. Die Blockflöte und der Tabaksqualm gehören zum Inventar der Vanitas-Ikonographie. Sie stehen für die Ver­gänglichkeit alles Irdischen und aller Klänge Schall und Rauch. Man darf Brüggen und Ose, die diese Motive in ihre Porträts aufnahmen, mit einem anderen Vanitas-Motto trösten: Ars Longa, Vita Brevis.

Michael Zapf