Martin Bambauer liebt die legendären französischen Orgeln des 19. Jahrhunderts. Das jüngst eingeweihte, maßgeblich von ihm angestoßene Instrument an seiner Wirkungsstätte seit 15 Jahren, der Konstantin-Basilika, trägt den Stempel dieser Vorliebe, und auch Programm und Austragungsort der CD, die soeben pünktlich zu Weihnachten erschienen ist, knüpft hier an: Die Vorzugsedition beim Label Aeolus enthält die beiden ersten Orgelsinfonien von Charles-Marie Widor, die Bambauer 2008 in St. Sulpice in Paris aufgenommen hat.
Der 1844 in Lyon geborene, vom berühmten Orgelbauer Aristide Cavaillé-Coll persönlich geförderte Widor übernahm 1870 das Amt des Organisten an St. Sulpice und hielt es von da an 64 Jahre inne. Für die fünfmanualige, über hundert Register verfügende, damals weltgrößte Orgel komponierte er auch seine zehn Orgelsinfonien. Die Toccata aus der fünften wurde zum Reißer, dem auch Klassikabstinenzler schon einmal begegnet sein dürften. Die achte ist mit einer angegebenen Spieldauer von einer Stunde die längste, aber auch die erste, in c-Moll, kommt auf stattliche 40 Minuten. Sie und die ebenfalls nicht so häufig präsentierte zweite in D-Dur erklingen nun also auf dem Instrument, für das der Komponist sie konzipiert hat.
Und in der Tat erweist sich Bambauer als ein vom genius loci inspirierter Klangzauberer. Mit traumwandlerischer Selbstverständlichkeit mischt er die Nuancen und Möglichkeiten dieses großen Klangkörpers ab, die die Musik wie aus dem Moment geboren fließen lässt und doch vom ersten Ton an einen Plan verfolgt. Der meditative Charakter der – man staune – meistens leisen Einzelstücke wird kontrastiert und zusammengefasst von pompösen oder toccatenhaft auftrumpfenden Glanzlichtern. Verblüffend, wie Bambauer mit den orchesterhaft gestaffelten Registern und Registergruppen vom Piano bis zum großen Fortissimo ausfahrende lückenlose Crescendi erzeugt. Es sind Epen, die sich hier entfalten, deren Spannung einigen spektakulären Steigerungen zum Trotz aber dennoch weniger vor dem Auge des Betrachters entwickelt wird, als dass sie einem langen Atem und Vorwissen des Erzählers um subtile Zusammenhänge entspringt.
Wer den eleganten Stil eines Mendelssohn liebt, dürfte auch an diesen Orgelsinfonien seine helle Freude haben. Daneben kreieren sie einen unverkennbar vom Geist dieser wunderbaren Orgel inspirierten „typisch französischen“ Ostinato- und Toccatenstil (Scherzo der ersten, Finale der zweiten) und enthalten Belege einer respektablen Fugatotechnik (Ecksätze der ersten).
Bambauer findet für das nicht eben einfache Aufeinandertreffen vorwiegend meditativer Grundtöne mit den großen Dimensionen einer Form, die nach konstruktiven Auseinandersetzungen schreit, eine ideale Balance. Auf dem Hintergrund der kenntnisreichen, nicht nur zum Hören, sondern auch zum Diskutieren anregenden Einführung von Wolfgang Valerius gibt das reichlich Raum, der Frage nachzuspüren, ob es eine religiöse oder sakrale Musik im einen oder anderen Sinne überhaupt geben kann, und wenn ja, wie sie denn beschaffen sei. Auch akustisch ist die Publikation ein Hochgenuss. Die Aufnahme vermittelt ein großes Raumgefühl, ohne Details zu vernachlässigen.