Hat der 100. Geburtstag von Sigfrid Karg-Elert am 17. November 1977 besondere Erinnerungen ausgelöst? Oder wurden anläßlich seines gegenwärtig zu gedenkenden 75. Todestages (9. April 2008) neue Anreize zur Auseinandersetzung mit dem stets umstrittenen Schaffen dieses Komponisten zwischen Romantik und Moderne gegeben? Auf der wissenschaftlich-theoretischen Ebene hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Menge getan, während nur Teilbereiche seiner Tonschöpfungen in den Schallplattenkatalogen ihr Dasein festigen konnten. Unter Kennern galt das Interesse vor allem dem einsamen, zugleich singulären Schöpfer einer eigenen Konzertliteratur für das Harmonium. Aber auch sein Liedschaffen, Klavierstücke und eine repräsentative Auswahl höchst individueller Orgelbeiträge forderten die Spitzenkräfte unter den konzertierenden Virtuosen wiederholt zu Aufführungen heraus.
Nun also meldet sich im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts das Label Aeolus aus Korschenbroich mit einer ebenso anspruchsvollen wie umfassenden Orgelschau des einst international beachteten Lehrers an den Konservatorien in Magdeburg und Leipzig. Fünf Folgen einer Karg-Elert-Anthologie mit dem gewagten Sammeltitel Ultimate Organ Works sind bereits erschienen. Deren Konzept, Inhalt und Erscheinungsbild scheint in vieler Hinsicht den „ultimativen“ Charakter der Edition zu bestätigen. Aktuell zu besprechen ist hier die dritte Folge der offensichtlich nicht in chronologischer Reihenfolge erscheinenden Serie. Mehrere Faktoren bestimmen die Erfolgsaussichten des Vorhabens. Erstens die Verpflichtung der vielseitig begabten, jungen Interpretin Elke Völker, deren künstlerische Kompetenz von den höheren Weihen eines musikwissenschaftlichen Studiums flankiert wird. Ihr Spezialgebiet liegt nahe: die Orgel in Theorie und Praxis unter besonderer Berücksichtigung des Schaffens von Sigfrid Karg-Elert. Als ein greifbares Ergebnis steht unmittelbar die Drucklegung eine Biographie des Meisters bevor, unter erstmaliger Berücksichtigung seines gesamten Briefwechsels, dazu eine Einführung in die „Harmonologik“ des Theoretikers Karg-Elert, Analysen der bedeutenden Orgelwerke und ein als unentbehrlich angekündigter Ratgeber für die heutige Aufführungspraxis.
Ein weiterer wichtiger Schachzug des Aeolus-Produzenten Christoph Martin Frommen ist die Einbeziehung des Orgelbaumeisters Thomas Jann in das vorliegende Projekt, vor allem dessen Wirken als Restaurator bei der Rückführung der 1962 in völliger Verkennung ihrer romantischen Besonderheiten damals barockisierten Stahlhut-Orgel von 1912 in Düdelingen (Luxemburg). Alles orgelkundlich Wissenswerte berichtet Alex Christoffel im Beiheft als weiteres Mitglied im Produktionsteam. Die Werkauswahl mit entsprechenden Erläuterungen
kommentiert selbstverständlich die Organistin als ihr eigenes Anliegen, abgerundet durch von ihr aufgestöberte Anmerkungen und Zitate des Komponisten. Durchdachte und abgerundete Vorleistungen also, die dank einer sorgfältig arbeitenden Aufnahmetechnik hohen Bewertungsmaßstäben gerecht werden.
Daß dennoch bei der vom Komponisten sporadisch eingesetzten Sopranstimme (Andrea Reuter) und obligater Solovioline (Robert Frank) angesichts der Kirchenakustik und der voll ausgekosteten Farbenpalette und Dynamik der Orgel die perfekte Lösung von Textverständlichkeit und Balance fragen einer Quadratur eines Kreises gleichkäme, sollte überkritischen Eifer dämpfen helfen. Wesentlich ist die klangliche Authentizität des Stahlhuth-Pfeifenwerkes. Mit Hilfe der Registrieranweisungen des Komponisten erreicht Elke Völker die beabsichtigte Wirkung dieser von ihr als „Jugendstil“ definierten Musik. Ihre oft abenteuerlich abrupten Kontraste umfassen eine Ausdrucksskala von zart säuselnder, gelegentlich in eine unsägliche Sentimentalität ausufernde Windharfen-Seligkeit bis zu kakophon-aberwitzigen forte-fortissimo-Klangeruptionen. Eine nahezu grenzensprengende Tastenvirtuosität der Spielerin und Beherrschung der Pedaltechnik ohne Tempolimit fordern das Äußerste an Präzision und Gestaltungswillen. Dies alles (und mehr) wird gewagt und gewonnen. Respekt!
Gefühl und Intellekt sind ständig zu einer überzeugenden Symbiose gezwungen, gerade auch in jenen Satzabschnitten, deren allzu süßliche Aussagekraft fragwürdig erscheint. Ambivalenz des Jugendstils? Vision des Komponisten: „Da erhebt das Kindlein sein süßes Gottesstimmchen, und alles Leid fällt ab“ (aus Karg-Elerts „Programmatischer Vorlage“ zum Sinfonischen Choral op. 87,3 – Track 5).
Gerhard Pätzig