Im Schatten so berühmter Musiker- und Komponistenpersönlichkeiten wie Bach oder Mozart zu stehen, macht es für Komponisten bis heute nicht einfach, aus diesem herauszutreten. Übermächtig ist die Präsenz der großen Tonsetzer in Konzert und Liturgie und auch auf dem Tonträgermarkt. Daher sind Aufnahmen wie die vorliegende mit Orgelwerken des Hamburger Organisten, Komponisten und Orgelsachverständigen Vincent Lübeck (1654-1740) umso nötiger und wichtiger. Schreibt doch schon Johann Mattheson in seinem 1739 erschienen Kompendium Der vollkommene Capellmeister: „Insbesondere gehet wol Händeln so leicht keiner im Orgelspielen über; es müste Bach in Leipzig seyn: Darum auch diese beyde, ausser der Alphabetischen Ordnung, oben an stehen sollen... Nächst diesen sind berühmt: Böhme in Lüneburg, Callenberg in Riga; Clerambault in Paris... Lübeck in Hamburg...“
Vincent Lübeck, 1654 in Padingsbüttel geboren und von 1702 bis 1740 Organist an der Hamburger Hauptkirche St. Nicolai, teilt das Schicksal des Dornröschenschlafes mit vielen seiner „Kollegen“ wie Scheidt, Bruhns, Reincken, Weckmann – und das völlig zu Unrecht, wie diese Einspielung von León Berben an den Arp Schnitger-Orgeln von St. Jacobi (Hamburg) und St. Georg (Weener) eindrucksvoll unter Beweis stellt. Eine verhängnisvolle Kombination von einer Bach- und Buxtehude-lastigen Unterrichtslage an den Musikhochschulen über viele Jahrzehnte und der Nische „Orgelmusik“ im Allgemeinen verhindern, dass solche Pretiosen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt werden.
Berbens Einspielung auf den vorbildlich restaurierten Instrumenten stellt die Klangwelt jenseits der großen Bachschen Architekturen vor, mit sehr viel Spielfreude, großer Virtuosität und abwechslungsreicher Registrierkunst.
Was soll man dieser und ähnlichen Einspielungen wünschen? Dass, angeregt durch eben solche Klangdokumente, die Musik von Vincent Lübeck den Weg von den Ohrstöpseln und Stereoanlagen-bewehrten Wohnzimmerlandschaften hinaus in die regelmäßige liturgische und konzertante Praxis der Kirchen und Konzertsäle findet. Man wird so manches Stück des großen Thomaskantors dann mit anderen Ohren hören und ihn nicht alleine auf den Säulen des großen barocken Tonheiligen stehen lassen. In Gesellschaft geht es einem denn doch besser.