Susanne un jour
Meisterhafte Handwerker und geniale Umsetzungen - auf dieser Renaissance-CD sind sie zu finden.
Bewertung: großartig
»Durch das Genie gibt die Natur der Kunst die Regel«, lautet eine zentrale Sentenz der Kritik der Urteilskraft Immanuel Kants (1790). Der Geniebegriff, der sich seit dem späten 18. Jahrhundert der Gemüter bemächtigte, hatte einen tiefgehenden Einfluss auf die Kunstproduktion. Denn nun waren die Künstler dazu verdammt, ihren Stil und jedes einzelne Werk den Aspekt der Einmaligkeit bis Einzigartigkeit zu verleihen; diese Originalität war auch durch den Rezipienten zu goutieren, was seinerseits notwendigerweise mit einer gewissen Verehrung des Künstlers als Genies verbunden.
Genie versus Handwerkskunst
Der Kunst im allgemeinen und der Musik der Renaissance kann man »entspannter« begegnen. Gemäß der Poetik des Aristoteles, die der Humanismus wieder an das geistige Tageslicht befördert hatte, sollte der Künstler nicht absolut original sein, sondern etwas zustandebringen, das es auf dieser Welt so noch nicht gab. Dazu befähigt ihn ein solides Handwerk. Das Handwerkliche konnte sich im Bereich der Musik auch in der kreativen Auseinandersetzung mit einer bereits existierenden Komposition – aus eigener oder fremder Feder – zeigen. Hier greifen zum Beispiel die Verfahren von Parodie und Intavolierung. Das erstere liegt dann vor, wenn eine Motette, ein Madrigal oder eine Chanson zum Ausgangspunkt einer neuen Komposition, zumeist eines Messordinarium, gemacht wird. Die Parodiemessen der Renaissance sind Legion! Eine Intavolierung liegt dann vor, wenn ein mehrstimmiger, vokaler Tonsatz in die Griffschrift für ein Instrument übertragen wird, wobei mehr oder weniger tiefgreifende Eingriffe in den Tonsatz der Vorlage gemacht werden müssen.
Hochkarätige Experten
Einige in ihrer Zeit besonders populäre Chansons und Madrigale der Renaissance wurden vielfach parodiert und intavoliert, etwa die Chanson »Susanne un jour« von Didier Lupie (1548) und das Madrigal »Anchor che co’l partire« von Cipriano de Rore (1515/16–1565). Diese beiden Stücke stehen im Mittelpunkt der vorliegenden CD. Auf immer mehr Einspielungen werden solche »multilateralen Bearbeitungsprozesse« zum Erklingen gebracht, wobei stets hochkarätige Experten am Werk sind. Das Zusammenwirken von La Villanella Basel und Stimmwerck ist vorzüglich. Viele Interpreten von heute haben – gestützt auf historische Lehrschriften – auch den Mut zu eigenen Berabeitungen. Es ist wiederum ein Hörabenteuer, die Vorlage, ihre Parodie und die vielfältigen Möglichkeiten einer instrumentalen Bearbeitung miteinander zu vergleichen. Hier begegnen einander »meisterhafte Handwerke« mit großem Respekt, denn jede Bearbeitung einer fremden Komposition ist gleichzeitig eine Verbeugung vor ihrem Urheber und das Bemühen, sich mit der Kunst eines Kollegen zu messen.
Bernhard Morbach, kulturradio