WDR5 Scala Service Klassik
Anders als Bach, den Ewigen, hat man Heinrich Ignaz Franz Biber lange fast vergessen. Dabei war er mal ein Superstar und weit berühmter als Bach: Chef eines der besten Orchester seiner Zeit und Liebling einer der mächtigsten Männer, des Erzbischofs Max Gandolf von Kuenburg in Salzburg. Als Ende des 19. Jahrhunderts aber eine dicker Band auftauchte mit einem Zyklus von Violinsonaten Bibers, da wurden die überhaupt nur veröffentlich, weil der Band so prachtvoll ausgestattet war und der Fund an sich historisch interessant schien. Bibers Musik selbst wurde als langweiliges Mittelmaß abgetan. Vielleicht konnten die Forscher damals ja die vertrackte Partitur nicht richtig lesen, in der die Geige ständig verstimmt wird und die Noten nicht mehr identisch sind mit dem Klang. Wie sonst könnte man diese himmlische Musik … langweilig nennen?
[ Biber: Sonata V. Double, CD 1, T.19 ]
Himmlisch und unglaublich: Heinrich Ignaz Franz Biber schrieb seine Rosenkranzsonaten für genau eine Person als Publikum und einen Solisten. Vermutlich Mitte der 1680er Jahre, als er seinen Posten als Vize-Kapellmeister und Geiger am Salzburger Hofe gerade angenommen hatte, widmete er dem Erzbischof einen Zyklus zur privaten Einkehr. 15 musikalische Meditationen über die christlichen Mysterien, von der Verkündigung der Geburt Jesu bis zur Marienkrönung nach der Kreuzigung plus abschließende Passacaglia. Durch die Verstimmung nach jedem Bild, der sogenannten Skordatur, entfernt sich die Geige immer weiter von ihrer natürlichen Tonlage, bis sie in der Mitte des Zyklus ganz matt klingt und dann zum Ende wieder an Strahlkraft gewinnt. Für den Solisten, der nur noch seinen Augen, aber nicht mehr seinen Ohren trauen darf, ist das die reinste Tortur. In der elften Sonate werden sogar die mittleren Saiten vertauscht. Vor dem Steg und im Wirbelkasten liegen sie dann über Kreuz, als stummes Symbol für das Martyrium.
[ Biber: Sonata XI, CD 2, T.15 ]
Vermutlich konnte nur Biber selbst damals diese Werke spielen, ganz sicher ist: nur der Bischof sollte sie hören. Eine Veröffentlichung war nie geplant und auch keine weitere Aufführung.
Man könnte noch viel erzählen über die geheimnisvollen Rosenkranzsonaten – doch auch ihre Interpretin ist atemberaubend. Die französische Geigerin Hélène Schmitt, ausgebildet unter anderem in Köln beim Barockguru Reinhard Goebel, gelingt mit ihrer Aufnahme nichts weniger als ein Geniestreich. In ihrer sehr freien Lesart des Notentextes reißt sie den Himmel weit auf und führt uns zu Entrückung und Ektase, Besinnung und Jubel, Verzweiflung und Hoffnung. Nichts ist lauwarm, jeder Moment rührt an die Existenz. Eine Seelenreise, so hätte man es früher vielleicht genannt. Sagen wir doch einfach: ein echter Hammer.
Raoul Mörchen